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50 Jahre Stalinallee - Ein Stück Moskau in Berlin

Berlin (dpa) - Berlin sieht aus wie Moskau - zumindest an der ehemaligen Stalinallee in Friedrichshain. Der 90 Meter breite Boulevard mit den Fassaden im Zuckerbäckerstil war eines der monumentalsten Bauprojekte der DDR und gilt als erste sozialistische Straße auf deutschem Boden. Im Januar 1953 zogen die ersten Mieter in die Wohnungen, die mit Müllschlucker, Fahrstuhl und Heizung für die kargen Verhältnisse im Nachkriegs-Berlin besonders komfortabel waren. Viele leben nach 50 Jahren immer noch dort.

Die Karl-Marx-Allee und die Frankfurter Allee, wie der Straßenzug heute heißt, sind ein Mikrokosmos des neuen Berlins. Hinter den stalinistisch-neoklassizistischen gekachelten Fassaden, die aussehen wie verzierte Torten, leben Ost und West in einer bunten Mischung: Von den jungen Kreativen, die ihre frisch bezogene Wohnung als Ausdruck einer neuen Urbanität sehen, bis hin zu Rentnern, die früher zum Aufmarsch am 1. Mai die rote Fahne aus dem Fenster hängten und jetzt den alten Zeiten nachtrauern. "Heute sagt meine Nachbarin, hier im Haus ist noch ein Stückchen DDR", erzählt Mieter Horst Mädicke. "Damit meint sie, es ist ihre Heimat."

In der jetzt eröffneten Ausstellung "Leben hinter der Zuckerbäckerfassade" zeichnen die italienische Fotografin Lidia Tirri und die schwedische Journalistin Ylva Queisser die wechselvollen Biografien der alten Bewohner nach. Eine der ersten, die damals einzogen, war Charitas Urbanski. "Hinter dem Haus arbeiteten noch die Trümmerfrauen", erinnert sich die alte Dame. "Über die Wohnung waren wir damals ganz glücklich, es war wirklich wunderbar hier." Es galt als Privileg, an der mächtigen Allee zu wohnen - und es war besser, SED-Mitglied zu sein. "Da mein Mann parteilos war, war er nicht sehr beliebt", erzählt Charitas Urbanski.

Mit der Stalinallee demonstrierte Berlin Linientreue zur Sowjetunion. Gemäß den Moskauer Vorschlägen wurden nationale Elemente - Formen des Berliner Baumeisters Karl Friedrich Schinkel - einbezogen; die Wohnblöcke sind bis zu 300 Meter lang. Anfang der 60er Jahre entstanden funktionalistische Kinos, das "Kosmos" und das "International". Zum Wahrzeichen wurden die Türme am Frankfurter Tor, die Architekt Hermann Henselmann in Anlehnung an den Gendarmenmarkt schuf. "Ich kann mich nicht erinnern, dass er begeistert über seine eigenen Bauten gesprochen hätte", erinnert sich seine Witwe Irene Henselmann, die mittlerweile selbst wieder im "Block A-Süd" wohnt.

Im Westen war die "stolze Stalinallee" (Johannes R. Becher) mit ihrer sowjettreuen Architektur lange Zeit heftig umstritten. Für die Bewohner war sie indes nicht nur Wohnort, sondern auch echter Kiez - auf dem Dach wurde gefeiert, zu Silvester traf man sich im Flur, um anzustoßen. Heute kostet eine Zwei-Zimmer-Wohnung statt 60 Mark (Ost) etwa 380 Euro, auf das Dach dürfen die Bewohner nicht mehr.

Ein großer Teil des denkmalgeschützten Ensembles ist saniert, und es gibt Versuche, die Nachbarschaft neu zu beleben, wenn auch der zugige Boulevard selbst wenig zum Flanieren taugt. Seit einiger Zeit haben auch jüngere Neu-Berliner die Gegend für sich entdeckt. Marion Rehn, 27 Jahre alte Architektin aus Weimar, liebt ihre Wohnung, den Steinholz-Estrich und den Blick auf die Zuckerbäckerfassaden. "Wenn es regnet oder schneit, fühle ich mich wie in Moskau."